Gedankenexperiment






Grafische Darstellung des Gedankenexperiments Schrödingers Katze: Quantenmechanisch gesehen kann sie demnach gleichzeitig tot und lebendig sein.


Ein Gedankenexperiment (auch Gedankenversuch oder Gedankenspiel) ist ein gedankliches Hilfsmittel, um bestimmte Theorien zu untermauern, zu widerlegen, zu veranschaulichen oder weiterzudenken. Es wird dabei gedanklich eine Situation konstruiert, die real so nicht oder nur sehr schwer herzustellen ist (zum Beispiel eine Reise mit annähernd Lichtgeschwindigkeit). Sodann malt man sich im Geiste aus, welche Folgen sich aus dieser Situation ergeben, wenn man die Theorie auf die Situation anwendet. Ein Experiment wird also in Gedanken simuliert. Ein Gedankenexperiment ist jedoch kein Experiment im eigentlichen Sinne. Letzteres beleuchtet Theorien durch empirische Anschauung von außen, ein Gedankenexperiment ist jedoch innerhalb der Theorie gefangen, der empirische Aspekt fehlt.




Inhaltsverzeichnis






  • 1 Gedankenexperiment versus reales Experiment


    • 1.1 Überprüfbarkeit




  • 2 Bekannte Gedankenexperimente


    • 2.1 Naturwissenschaften


    • 2.2 Philosophie




  • 3 Siehe auch


  • 4 Literatur


  • 5 Weblinks


  • 6 Einzelnachweise





Gedankenexperiment versus reales Experiment |


Dennoch sind inzwischen einige Gedankenexperimente, die zu der Zeit, als sie erdacht wurden, nicht realisierbar waren, heute in echten Experimenten durchführbar. So wurde zum Beispiel der empirische Nachweis erbracht, dass Uhren abhängig von der relativen Geschwindigkeit, mit der sie bewegt werden, unterschiedlich schnell gehen.


Andere Gedankenexperimente haben sich später als prinzipiell nicht durchführbar herausgestellt. So ist beispielsweise heute bekannt, dass der Maxwellsche Dämon prinzipiell nicht funktioniert, hauptsächlich aus „quantenmechanischen Gründen“. Als dieses Gedankenexperiment erdacht wurde, war aber auch noch nichts über die Quantenmechanik bekannt.


Noch komplexer sind die Zusammenhänge bei der Arbeit von Albert Einstein und Mitarbeitern über das Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxon: Hier haben die Autoren im Jahre 1935 aufgrund eines zutreffenden Gedankenexperiments fälschlicherweise die Quantenmechanik als „ergänzungsbedürftig“ verworfen: Dieser Irrtum hat sich aber erst mit großer Verspätung und trotz ausschließlich richtiger und zukunftsträchtiger Schlüsse in der Analyse als solcher herausgestellt (siehe dazu u. a. die realen optischen Experimente von Alain Aspect), nachdem durch die sog. Bell'schen Ungleichungen (eine 1964 durchgeführte mathematisch rigorose theoretische Arbeit) die philosophischen Grundlagen der EPR-Veröffentlichung falsifiziert werden konnten.


Gedankenexperimente sind somit verschieden von realen Experimenten und sind im Allgemeinen der theoretischen Physik zuzuordnen; aber auch in anderen Disziplinen, z. B. in der Philosophie, spielen sie eine wichtige Rolle. Hans Christian Ørsted führte als Erster den Begriff Gedankenexperiment als Beziehung zwischen mathematischer und physikalischer Erkenntnis bei Kant ein. Vor allem die von Albert Einstein gefundene spezielle Relativitätstheorie macht reichlich Gebrauch von Gedankenexperimenten. Einstein übernahm die Idee dazu von seinem zeitweiligen Lehrer Ernst Mach, auf dessen philosophisches Wirken die Bekanntheit dieses Begriffs zurückgeht.


Beliebt sind Gedankenexperimente besonders, um zu prüfen, ob eine Theorie zu paradoxen Situationen führt. So wird das bekannte Beispiel von Schrödingers Katze, die mit einer quantenmechanisch beschriebenen Wahrscheinlichkeit gleichzeitig tot und lebendig ist, normalerweise als Beleg dafür angegeben, dass die betroffene Theorie in wenigstens einer Hinsicht unvollständig ist (zum Beispiel, indem sie Verletzungen der quantenmechanischen Kohärenz nicht berücksichtigt).



Überprüfbarkeit |


Gedankenexperimente gehören zur jeweiligen theoretischen Disziplin (z. B. Theoretische Physik oder Theoretische Philosophie), während reale Experimente der jeweiligen experimentellen Disziplin angehören. Der Unterschied scheint selbstverständlich zu sein, ist aber subtil, wie am Beispiel der berühmten Arbeit Albert Einsteins zum EPR-Effekt deutlich wird. In dieser Arbeit (1935) hat Einstein mit zwei Mitarbeitern nicht nur besagten Effekt aufgrund eines Gedankenexperiments vorgeschlagen (der Effekt konnte inzwischen realisiert werden), sondern vor allem auch aufgrund der ungewöhnlichen Eigenschaften des Effekts die Quantenmechanik als „unvernünftig und ergänzungsbedürftig“ zurückgewiesen.


Alle mathematischen Schlüsse dieser Arbeit waren korrekt, sodass Einstein damals kein logischer Irrtum nachgewiesen werden konnte, weder durch Gedankenexperimente noch durch reale Experimente. Erst 1964 gelang es dem theoretischen Physiker John Bell, zu zeigen (siehe Bellsche Ungleichung), dass die Gültigkeit der explizit angesprochenen philosophischen Grundlagen der EPR-Arbeit, die Annahme der sogenannten Realität und Lokalität einer physikalischen Theorie, experimentell überprüfbar ist, und zwar durch reale Experimente, nicht durch Gedankenexperimente. Solche realen Experimente wurden inzwischen mehrfach durchgeführt (z. B. durch Alain Aspect) und haben stets die erwähnten philosophischen Grundannahmen der Einstein’schen Arbeit falsifiziert; d. h., dass die Quantenmechanik sich in jedem Fall als nicht ergänzungsbedürftig erwiesen hat. (Zum Thema „Falsifikation einer Theorie“ siehe die Philosophie von Karl Popper.)


In diesem einen Fall hat sich also Einstein geirrt, aber gleichwohl mit dem erwähnten EPR-Effekt und der darauf aufbauenden Quantenkryptographie (siehe auch Quantenverschränkung) für die praktischen Anwendungen der von ihm so heftig bekämpften Quantenmechanik etwas ganz Wesentliches hinterlassen.



Bekannte Gedankenexperimente |



Naturwissenschaften |




  • Braitenberg-Vehikel – von Valentino Braitenberg erdachte kybernetische Roboterfahrzeuge, die Verhaltensweisen von Lebewesen zu zeigen scheinen


  • EPR-Paradoxon (Quantenmechanik) (inzwischen experimentell durchgeführt)


  • Fahrstuhlexperiment (Allgemeine Relativitätstheorie) – in einem geschlossenen Fahrstuhl ist es nicht möglich zu entscheiden, ob die Beschleunigung einer Testmasse durch den Fahrstuhlmotor oder ein externes Gravitationsfeld hervorgerufen wird, also müssen träge und schwere Masse gleich sein. Im frei fallenden Fahrstuhl herrscht keine Schwere (praktisch durch Fallturmexperimente oder durch die Schwerelosigkeit in einem Flugzeug im Parabelflug gezeigt)


  • Flatland – A Romance in many Dimensions. Edwin A. Abbott. Reise durch geometrische Grundformen 1884


  • Freier Fall – Giovanni Battista Benedetti widerlegte 1554 in seinem Werk Demonstratio proportionum motuum localium contra Aristotilem et omnes philosophos, dass verschieden schwere Körper verschieden schnell fallen. Das Gedankenexperiment findet sich auch in den Discorsi von Galileo Galilei und wurde häufig diesem zugeschrieben.


  • Laplacescher Dämon, der nach der klassischen Physik die Vergangenheit und Zukunft der Welt berechnen könnte


  • Lichtuhr (Spezielle Relativitätstheorie) – eine bewegte Uhr (von außen beobachtet) läuft langsamer


  • Maxwellscher Dämon – bringt den 2. Hauptsatz der Thermodynamik mit Information in Zusammenhang


  • Photonenwaage – Albert Einstein versuchte Niels Bohr von der Unvollkommenheit der Quantentheorie zu überzeugen


  • Planiversum – beschreibt das Leben in einer zweidimensionalen Welt


  • Schrödingers Katze (Quantenmechanik) – wirft interessante Fragen zum quantenmechanischen Messprozess auf


  • Stevinsches Gedankenexperiment – Erklärung der Gleichgewichtsverhältnisse auf schiefen Ebenen von Simon Stevin um 1600


  • Zwillingsparadoxon (Spezielle Relativitätstheorie) – in einem schnellen Raumschiff läuft die Zeit von außen betrachtet langsamer ab, für die Insassen sind die Entfernungen verkürzt



Philosophie |


Gedankenexperimente in der Philosophie haben meist ein wesentliches Merkmal, das sie von anderen illustrativen Mitteln unterscheidet: Sie gehen von kontrafaktischen Umständen aus. In einem solchen Gedankenexperiment wird gefragt, was wohl der Fall wäre, wenn die Dinge anders lägen als sie es tatsächlich tun. Der Grad der Kontrafaktizität kann verschieden hoch sein, aber im Grunde liegt immer eine hypothetische Situation vor. Die Form einer solchen Überlegung kann folgendermaßen dargestellt werden:



  • Wir gehen normalerweise davon aus und behaupten, dass der Satz S wahr ist.

  • In unserem Gedankenexperiment gehen wir jetzt aber davon aus, dass die Welt ganz anders (oder ein bisschen anders) funktioniert. Dann nehmen wir nicht mehr an, dass S wahr ist, sondern vielleicht ein anderer Satz F, der mit S unvereinbar ist.

  • Wir haben also keinen Anlass, S für absolut wahr zu halten, sondern sehen S als Resultat unserer bestimmten, (möglicherweise veränderbaren) Situation an.


Beispiele:




  • Trolley-Problem – Philippa Foot


  • Gettier-Problem – Edmund Gettier


  • Chinesisches Zimmer – John Searle


  • Schleier des Nichtwissens – John Rawls


  • Gehirn im Tank – Hilary Putnam


  • Mühlenbeispiel - Gottfried Wilhelm Leibniz


  • Zwillingserde – Hilary Putnam


  • Sumpfmann – Donald Davidson


  • Geiger-Beispiel – Judith Jarvis Thomson


  • Mary – Frank Cameron Jackson


  • Nützlichkeits-Monster − Robert Nozick

  • Schiff des Theseus


Von Gedankenexperimenten aus der Philosophie zu unterscheiden sind Gleichnisse, die einen abstrakten Sachverhalt mit einer anschaulichen Situation verdeutlichen sollen. Bei dem Höhlengleichnis geht es Platon um die anschauliche Darstellung seiner Erkenntnistheorie; allerdings enthält das Gleichnis insofern auch Elemente eines Gedankenexperiments, als Platon weiterhin ausführt, wie es einer Person ergehen würde, die dem in der Höhle Gefesselten von der Außenwelt berichtet.[1]



Siehe auch |



  • Gleichnis, die Sicht aus einer ungewohnten Perspektive ist eine Gemeinsamkeit mit dem Gedankenexperiment


Literatur |



  • Bertram, G.W. (Hg.) Philosophische Gedankenexperimente. Ein Lese- und Studienbuch. Stuttgart 2012.

  • Brooks, D. H. M. "The Method of Thought Experiment" in: Metaphilosophy, vol. 25, Nr. 1 S. 71–83.

  • Haggqvist, S. Thought Experiments in Philosophy, Stockholm 1996.


  • Behmel, A. Gedankenexperimente in der Philosophie des Geistes, Stuttgart 2001.

  • Macho, Th. u. A. WUNSCHEL (Hrsg.) Science & Fiction. Gedankenexperimente in Wissenschaft, Philosophie und Literatur. Frankfurt/M 2004.

  • Engels, H. "Nehmen wir an…" Das Gedankenexperiment in didaktischer Absicht, Weinheim und Basel 2004.

  • Kühne, U. Die Methode des Gedankenexperiments, Frankfurt/M 2005.

  • Cohnitz, D. Gedankenexperimente in der Philosophie, Paderborn 2006.

  • R. A. Sorensen: Thought Experiments, Oxford University Press 1990.

  • Michel, J. G. "Mit Gedankenexperimenten argumentieren: Eine Fallstudie in der Philosophie des Geistes." In Die Suche nach dem Geist, J. G. Michel & G. Münster (Hrsg.), S. 81–120, Münster 2013.


  • Special Issue: Ernst Mach und das Gedankenexperiment um 1900, eingeleitet von Bernhard Kleeberg, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, März 2015, Volume 38, Issue 1, S. 1–101.



Weblinks |



 Commons: Thought experiments – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien


 Wiktionary: Gedankenexperiment – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen


 Wiktionary: Gedankenspiel – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen



  • Eintrag in Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.Vorlage:SEP/Wartung/Parameter 1 und weder Parameter 2 noch Parameter 3


  • J. H. Y. Fehige, Uni Mainz "Das Gedankenexperiment – eine eigenständige Erkenntnismethode?" – Über die epistemologische Diskussion seit Ernst Mach (PDF-Datei; 295 kB)


  • Ulrich Kühne: "Gedankenexperiment und Erklärung" (1997) – Aufsatz über die wissenschaftsphilosophische Bedeutung von Gedankenexperimenten in den Naturwissenschaften

  • Zusammenstellung von Joachim Eberhardt



Einzelnachweise |




  1. Ulrich Gähde: Gedankenexperimente in Erkenntnistheorie und Physik. In: Julian Nida-Rümelin (Hrsg.): Rationality, realism, revision. Walter de Gruyter, 2000, ISBN 3110163934, S. 457.








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